Mittwoch, 27. Juli 1988

Südtirol 1988 - Ortler, 3.905 m - Vom Wanderer zum Bergsteiger auf unseren Traumgipfel

Ortlergipfel mit Normalweg und Payer Hütte (links) auf dem Tabarettagrat
1987 sitzen wir in 3.028 m Höhe auf der Terasse der Payer Hütte unterhalb des Ortlergipfels. Der etwa achtzigjährige Hüttenwirt Willi Ortler hält mit seinem Fernglas Ausschau nach Seilschaften, die sich auf dem Gletscher bereits auf dem Rückweg von ihrer Gipfelbesteigung befinden. Fasziniert beobachten wir dieses Schauspiel. Nach und nach treffen die Seilschaften an der Hütte ein. Die Frauen und Männer befinden sich überwiegend in einem mittleren Alter. Bei ihrer Rückkehr sind die Bergsteiger zwar mehr oder weniger stark erschöpft, sie  zeigen jedoch unabhängig von ihrer Erschöpfung einen Ausdruck von Glück und Zufriedenheit, der uns als Wanderer tief beeindruckt. Zwischen Bergwandern und Bergsteigen muss es etwas geben, das wir nicht kennen. Dieses Erlebnis möchten wir uns erschließen. Aber dazu müssen wir erst einmal zum Bergsteiger mutieren. Wir sind kühn und beschließen, im Sommer des nächsten Jahres auf dem Gipfel des Ortlers zu stehen. Die Reichweite dieser Entscheidung können wir zu diesem Zeitpunkt nicht absehen. Unser Leben erhält nicht nur neue Impulse, sondern eine neue Ausrichtung und wird mit Qualitätsgewinnen bereichert, die alle Mühen und Kosten gering erscheinen lassen. Im Juli des Sommers 1988 stehen wir um 9:00 Uhr morgens auf dem Gipfel des Ortlers.

Metamorphose und Vorbereitung
Im Frühjahr 1988 beginnen wir unser Fitnessprogramm. Lauftraining erkennen wir als die für uns effizienteste Trainingsart, die kaum Voraussetzungen erfordert, schnell zu erlernen und einfach zu organisieren ist. Die ersten Versuche sind mühsam und entmutigend. Wir beschaffen uns zunächst einmal Anleitungen für Anfänger und gehen nun etwas systematischer vor.

Um uns für das Hochgebirge fit zu machen, nehmen wir zu Beginn des Sommerurlaubs an einem einwöchigen Eiskurs in den Ötztaler Alpen teil. Hier bewährt sich bereits unsere neu erarbeitete Fitness. Mit den anderen Teilnehmern können wir gut mithalten. Als Teilnehmer einer geführten Gletschertour auf den Cevedale können wir unsere Fähigkeiten noch einmal überprüfen. Der Cevedale fällt uns leicht und das Gehen im Seil mit Steigeisen bereitet keine Probleme. Wir fühlen uns ausreichend vorbereitet. Das Wetter ist hervorragend und stabil. Eine neue Zeit bricht an. Der Gipfel ist reif.

Fehlende Erfahrungen, begrenzte Fähigkeiten und Risiken einer solchen Tour sind uns bewusst, weshalb wir den Gipfel mit einem Bergführer besteigen wollen. Wir vereinbaren uns mit dem Bergführer Robert von der Bergschule Meran. Am Tag vor dem Gipfelaufsteig treffen wir uns nachmittags in Sulden um uns gemeinsam auf den Weg zur Payer Hütte zu begeben. Robert bringt noch einen weiteren Bergkameraden mit, der bereits mehrfach mit privat organisierten Gipfelbesteigungen am Ortler gescheitert ist und sich nun einer geführten Tour anschließt.

In Anbetracht des schönen Wetters ist die Payer Hütte mit vielen Bergsteigern belegt, die wie wir morgen aufsteigen wollen. Robert hat für uns eine Kammer mit zwei Betten organisiert, in denen es recht gemütlich ist. Die Nacht wird jedoch kurz sein. In Westalpenmanier müssen wir früh aufbrechen, um bis zum Mittag zurück zu sein. Das warme, sonnige Wetter weicht nämlich im Laufe des Tages den Gletscher auf und erhöht dadurch das Risiko des Sturzes in eine der zahlreichen Spalten.

Gipfelaufstieg
Auf Willi Ortler ist Verlass. Er weckt alle Bergsteiger persönlich, während die Küche bereits das Frühstück vorbereitet. In und vor der Hütte sortieren sich noch einmal die Bergsteiger und ihre Seilschaften.
Mit der Morgendämmerung startet der allgemeine Aufbruch. Die Karawane der Bergsteiger strebt auf dem schmalen Felsenweg des Tabarettagrates über die Nordwestflanke der Tabarettaspitze in Richtung des Ortlergipfels. Den Gipfel werden wir erst wieder sehen, wenn wir uns nach der Felspassage auf dem Gletscher befinden.






Im "Wandl" auf dem Rückweg
Im "Wandl" auf dem Rückweg
Im "Wandl" auf dem Rückweg


Schon bald stehen wir vor dem berühmt-berüchtigen "Wandl", das als schwierigste Schlüsselstelle auf der gesamten Route gilt. Die Felspassage ist zwar teilweise mit Ketten gesichert, sie hält jedoch Schwierigkeiten des III. Grades bereit, die unsere Grenzen aufzeigen. Das haben wir nicht erwartet und wir sind auch nicht auf die Technik des Felskletterns vorbereitet. Robert hat alle Hände voll zu tun, um uns über diese Passage zu bringen. Hinsichtlich unserer Felstechnik werden wir noch nacharbeiten müssen, um uns das Hochgebirge zu erschließen.




Nachdem die Felspassage mit dem "Wandl" überwunden ist, folgt ein luftiges Gratstück, bis wir über eine steile Eisrinne das "Bärenloch" erreichen, ein Gletscherbecken unterhalb des Tschierfecks, das seinen Namen vom Fund eines Bärenskeletts an dieser Stelle erhalten haben soll. Der Anstieg zum Tschierfeck mit der Biwakschachtel Tschierfeckhütte (Bivacco Lombardi) führt über bis zu 40 Grad steile Eis- und Firnrinnen. Am Tschierfeck ist erst einmal eine kleine Pause angesagt, ehe wir das Plateau des Ortlerferners betreten.


Im Anstieg auf dem Gipfelplateau
Im Anstieg auf dem Gipfelplateau






















Schatten unser Seilschaft, Weißkugel im Hintergrund
Auf dem sanft ansteigenden Gletscher des Ortlerplateaus befinden wir uns in einem Terrain, in dem wir uns sicher bewegen. In großen Bögen streben die Seilschaften über das terrassenartig ansteigende Gelände. Die Höhe bereitet keine Schwierigkeiten und konditionell sind wir ohnehin fit. Bei perfektem Wetter sind wir gut unterwegs und überholen etliche Seilschaften, die schneller als wir durch das "Wandl" gestiegen sind, aber nun nachlassen. Den Gipfel haben wir immer wieder im Blick. Der aus Nord- Osten so mächtig wirkende Gipfel erscheint aus unserer Richtung wie eine harmlose Erhebung auf dem Plateau.








Tabarettagrad, Suldental und Obervinschgau vom Ortler
Um 9:00 Uhr ist es soweit. Nach einjähriger Vorbereitung haben wir unseren Traum realisiert. Nach einem Anstieg von ca. 3-4  Std. stehen wir auf dem Gipfel des Ortlers. Glücksgefühle durchströmen uns. Wir beglückwünschen uns gegenseitig mit dem traditionellen Bergsteigergruß "Berg Heil!". Der "König Ortler" gewährt eine selten großzügige Audienz. Üblicherweise ist hier Gipfelsturm zu erwarten. Heute weht kaum ein Lüftchen und die Sicht ist so traumhaft, wie sie auch unser Bergführer Robert noch nie auf dem Ortler erlebt hat. Wir sitzen im Hemd mit aufgeschlagenen Ärmeln auf dem Gipfel und genießen unser Glück.







An dem traumhaften Panaroma mit einer Fernsicht von ca. 200 km können wir uns nicht satt sehen. Aber wir müssen auch an den Rückweg denken, und inzwischen drängen weitere Seilschaften nach, die einen Platz auf dem kleinen Gipfelaufbau suchen.
Der Abschied vom Ortlergipfel fällt uns schwer. Dieser Tag hat uns so viel mehr gegeben, als wir jemals erwarten durften. So ein Erlebnis ist in seiner Singularität nicht wiederholbar. Robert nimmt noch ein Foto unserer Seilschaft auf, ehe wir aufbrechen.








Den Rückweg zur Payer Hütte nehmen wir beschwingt. An den heiklen Stellen sichert Robert und mahnt uns auch sonst zur Vorsicht. Der Schnee ist immer noch fest, so dass sich unter den Eisen keine Stollen bilden und wir die zahlreichen Gletscherspalten ungefährdet passieren. 
Dank Robert kommen wir gut über das "Wandl", das für uns alleine eine unüberwindbare Hürde wäre. Noch vor 12:00 Uhr Mittag sind wir zurück an der Payer Hütte. Ein Bier und eine Portion Pasta haben wir uns mehr als verdient. Robert ist selbstverständlich eingeladen. Du bist ein großartiger Bergführer! Danke, Robert!






Nachbetrachtung
Die Ortlerbesteigung ist eine ernsthafte, kombinierte hochalpine Tour mit Westalpencharakter, die Respekt vor dem Berg fordert. Die Verhältnisse ändern sich laufend und sind selten so gut wie bei unserem Aufstieg. Am Ortler sind fast in jedem Jahr Todesopfer zu verzeichnen, weil Bergsteiger die Risiken oder ihre Fähigkeiten falsch einschätzen.

Wir haben unsere Lektion gelernt und im folgenden Herbst begonnen, unsere Felsklettertechnik im Rahmen mehrerer Kurse bis zum Nachstieg im V-VI Grad zu entwickeln. In den Folgejahren profitieren wir von der verbesserten Technik nicht nur in einigen geführten Touren, sondern auch auf schwierigen Klettersteigen, die wir ohne Bergführer begehen.

Das ursprünglich nur als Vorbereitung für Bergtouren aufgenommene Lauftraining verselbständigt sich bald. Unsere Begeisterung für den Laufsport wächst. Innerhalb von zwei Jahren entwickeln wir uns zu Marathonläufern und erschließen uns Mitte der neunziger Jahre den Ultralanglauf. Ihren Anfang nimmt diese Entwicklung mit unserem Traumprojekt vom Ortlergipfel.

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